Sowohl in westlichen als auch in östlichen Traditionen existieren unterschiedliche Auffassungen, was den Kern von Religion bzw. Spiritualität ausmacht. Eine klassische westliche Idee ist, dass Religion in bestimmten rational beweisbaren (oder widerlegbaren) Tatsachenbehauptungen besteht, wie etwa, dass ein Gott diese Welt erschaffen hat. Diese Auffassung spielt in der Aufklärung, aber auch in der katholischen Tradition noch heute eine große Rolle, wird aber beispielsweise vom europäischen Protestantismus abgelehnt. Letzterer sieht nach Schleiermacher Religion als im Kern an Gefühlen und Erfahrungen orientiert. Erfahrungen spielen nun auch im Zen-Buddhismus oder im Hinduismus eine Schlüsselrolle, hier in Verbindung mit Meditation oder auch Yoga. Dagegen enthält der Madhyamaka- Buddhismus eine skeptische Lesart, nach der wir uns eines Urteils zumindest auf einer Ebene enthalten müssen – ähnliches lässt sich auch im Daoismus finden. Eine Kontroverse Frage ist, inwiefern sich die zentralen Autoren hier, Nagarjuna und Zhuangzi, als Mystiker verstehen lassen. Auch die Frage nach der Rolle der Moral in der Religion stellt sich in verschiedenen Traditionen: neben der entsprechenden Diskussion bei Kant lassen sich hier Gedanken zum Verhältnis der „Himmel“ und der Moral im Konfuzianismus diskutieren.
Letztlich kann gefragt werden, inwiefern der Begriff „Religion“ an die monotheistischen Religionen angelehnt ist und ob sich wirklich eine kohärente Definition dieses Begriffes geben lässt (siehe dazu Appiah). Nichtsdestotrotz ermöglicht die Frage nach dem Kern der Religion einen interkulturellen Dialog. Dies ist ein Vorteil gegenüber anderen klassischen Fragestellungen. So ist etwa die Diskussion von Gottesbeweisen und dem Problem des Übels als solche nur schwierig mit nicht nicht- monotheistischen Traditionen in Dialog zu bringen, außer eben indem sie als Exemplar eines rationalistischen Verständnisses von Religion betrachtet wird.
Textvorschläge
Thomas von Aquin (ca. 1274). Summa Theologica. Auszugsweise in: id., Die Gottesbeweise in der ‘Summe gegen die Heiden’ und der ‘Summe der Theologie’. Übs. von Horst Seidl. Meiner 1996. Teil I, Frage 2.
Ein Standardtext der Religionsphilosophie, der auch in anderen Ausgaben vorliegt. Thomas verwirft zunächst den ontologischen Gottesbeweis, den Anselm von Canterbury ca. 200 Jahre zuvor eingeführt hatte, legt dann aber fünf andere Beweise vor, die die Existenz Gottes zeigen sollen – die meisten davon können als Versionen des kosmologischen Gottesbeweises gelten. Interessanterweise lassen diese Beweise weniger Schlüsse auf das Wesen Gottes zu als Anselms Beweis.
Matthew Tindal (1730). Christianity as Old as the Creation. Faksimilie-Druck. Frommann-Holzboog 1967. Kapitel 1-2.
Tindals Buch, das auch als die „Bibel des Deisten“ bekannt war, erreichte in der Aufklärung große Aufmerksamkeit. Tindal argumentiert, dass die Kernwahrheiten des Christentums (Gottes Existenz und Natur, sowie auch moralische Gebote) auch allein durch den Verstand erkennbar seien, und nicht erst durch etwa die Bibel. Dies müsse auch so sein, da sonst Gott ja sonst allen vor Jesus geborenen keine Erlösung ermöglicht hätte. Im zweiten Kapitel entwirft Tindal eine Moral und stellt dabei klar, dass Menschen nicht zur Zufriedenheit eines bereits vollkommenen Wesens wie Gott beitragen könnten, sondern nur zur Zufriedenheit ihrer selbst und anderer Menschen. Tindals Buch wurde von kirchlicher Seite kritisch gesehen, weil eine reine Vernunftreligion auch kirchliche Autorität zurückweist.
Friedrich Schleiermacher (1799). Über die Religion: Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern. Reclam 1997. Zweite Rede (in Auszügen).
Schleiermacher wird mit diesem Text und der späteren Glaubenslehre zu einer zentralen Figur der evangelischen Theologie. Er entwirft ein Bild von Religion, nach dem metaphysische und moralische Aspekte nicht zum Wesen der Religion gehören. Stattdessen entsteht Religion in der Betrachtung des Universums in seiner unfassbaren Größe und Schönheit und besteht in einem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (wie er später in der Glaubenslehre schreibt). Da Gefühle persönlich sind, kann es keinen Anlass für Streit über die „Richtigkeit“ einer Religion geben, oder gar zum Krieg deswegen. Auch die natürliche Religion wird von Schleiermacher als besonders entkernte Religionsauffassung verworfen. Bei Wahl eines passenden Auszuges (etwa bis S. 53 der Reclam- Ausgabe) kann dieser Text in einer Sitzung behandelt werden.
Swami Vivekananda (1896). Raja Yoga. Cephalis Press 2003. Kap. 1 u. 8.
Vivekananda war ein in zweierlei Hinsicht wichtiger Denker: zum hat er während mehrjähriger Reisen insbesondere in den USA (in deren Kontext auch mehrere Bücher wie dieses entstanden sind) erstmals Yoga popularisiert. Zum anderen war seine Konzeption einer Erfahrungsreligion in der indischen Unabhängigkeitsbewegung von Bedeutung, da sie eine Art multireligiöse indische Identität ermöglicht. Vivekananda unterscheidet Religionen mit und ohne (heiliges) Buch. Religionen ohne Buch können sich nicht auf Erfahrung „zweiter Hand“ berufen, sondern müssen Erfahrungen erster Hand produzieren. Yoga ist laut Vivekananda eine Wissenschaft, deren Ziel es ist, eine bestimmte Form religiöser Erfahrung zu produzieren. Kapitel 8 enthält eine kurze Übersicht, wie dies funktionieren soll, sowie eine schöne Fabel zum Abschluss.
Dōgen (ca. 1130). Bendōwa. Übersetzung von Raji Steineck in Bunron 8 (2021), Online verfügbar hier.
Das Bendōwa wird zwar manchmal nicht als Teil von Dōgens Hauptwerk, dem Shōbōgenzō, geführt, gilt dafür aber als wichtiger Einleitungstext in sein Denken. Dogen empfiehlt das einfache Sitzen und die gegenstandslose Meditation als Weg zur Einsicht in den Buddhismus, betont aber auch die Wichtigkeit eines individuell passenden Lehrmeisters. Im Ergebnis soll dies eine Art zeitliche Entgrenzung, aber auch eine Vereinigung aller gemeinsam Meditierenden erreichen. Der Text lässt sich über zwei Sitzungen verteilt lesen, oder bis zum Beginn des “Frage und Antwort Spiels” in einer Sitzung.
Zhuangzi (ca. 300 v. Chr.). Zhuangzi. Übs. von Viktor Kalinke. Reclam 2019. Kap. 1 u. 2.
Neben dem Daodejing ein philosophischer Kerntext des Daoismus. Zhuangzi argumentiert hier durch zahlreichen Fabeln und Analogien, dass es auf nichts die eine objektiv gültige Perspektive gibt. Insbesondere in Kalinkes Übersetzung werden die skeptischen Motive sehr deutlich. Zhuangzi empfiehlt wu wei („Ohne-Tun“ oder „Nicht-Handeln“), in dem man einfach seiner Natur entspricht.
Nāgārjuna (ca. 300). Die Philosophie der Leere: Nāgārjunas Mulamadhyamaka-Karikas. Übs. und hg. von Bernhard Weber-Brosamer und Dieter Back. Harassowitz Verlag 2005. Kap. 24 u. 25.
Nāgārjuna vertritt die Idee, das alles – Ereignisse, Erfahrungen, Behauptungen – leer sei, d.h. auf keinen festen Grund zurückgehe. Im Schlüsselkapitel 24 wird er mit dem Einwand konfrontiert, dass demzufolge auch die „vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus leer sein müssten. Nāgārjuna entwickelt daraufhin die Lehre der zwei Wahrheiten, nach der die Idee der Leere eine tiefere absolute Wahrheit darstelle, zu der die vier edlen Wahrheiten eine Art Brücke darstellen. In Kap. 25 nutzt Nāgārjuna die logische Form des Tetralemmas bezüglich der Frage, ob das Nirvana etwas Seiendes ist. Im Ergebnis stellt sich das Nirvana als eine Art zeitloser Zustand heraus, der also auch nicht ein Leben nach dem Tod ist, sondern vielmehr aus dem Leben heraustritt.
Seng Zhao (ca. 400). Chao Lun: The Treatises of Seng-chao. Übs. ins Englische von Walter Liebenthal. Hong Kong University Press 1968.
Sengzhao führt in seiner Philosophie die Ideen Zhuangzis und Nāgārjunas zusammen. Er entwickelt in großer Klarheit die Idee des Nirvanas als eine Heraustreten aus der zeit. In moderner Terminologie vertritt Seng Zhao eine „B-Theorie“ der Zeit, nach der die Zeit eine Illusion ist, und es in Wirklichkeit nur eine Reihe von statischen Weltzuständen gibt. Die Walze des Dharma-Rades treibt uns dabei von einem Zustand zum nächsten. Nirvana ist daher das Ausbrechen aus dieser scheinbaren Bewegung und das „verharren“ in einem statischen Zustand. Es wird bei Seng Zhao auch ersichtlich, wie dies durch Praktiken wie etwa der von Dogen empfohlenen gegenstandslosen Meditation erreichbar sein könnte. Leider liegen die ersten beiden Kapitel nicht in deutscher Übersetzung vor.
Immanuel Kant (1788). Kritik der Praktischen Vernunft. Zweites Buch, zweites Hauptstück, Abschnitt V: „Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ Online verfügbar hier.
Kant zufolge lässt sich die Existenz Gottes nicht theoretisch herleiten, allerdings ist die Annahme Gottes eine Bedingung der Möglichkeit unserer Moralität. Die Idee ist, dass unser moralisches Handeln voraussetzt, dass ein „höchstes Gut“ erlangbar ist, das in der Glückseligkeit der Menschheit besteht – aber dieses kann letztlich nur Gott sicherstellen. Kant führt aus, dass es in diesem Sinne keine Pflicht gibt, an Gott zu glauben (weil dessen Existenz nicht theoretische gezeigt werden kann), wohl aber eine Form der Notwendigkeit.
Menzius (ca. 300 v. Chr.). Menzius. Übersetzt von Richard Wilhelm. Buch VI, Abschnitt A. Online verfügbar hier.
Menzius ist der philosophisch Kernautor des Konfuzianismus – ob dieser als Religion zu bezeichnen ist, ist dabei eine schwierige Frage. Menzius entwirft in diesem Abschnitt ein Bild des Menschen, der seiner Natur nach die Anlage und Tendenz zum Guten hat, welche aber gepflegt werden muss. Diese Veranlagung sei ihm von den „Himmeln“ („tian“) mitgegeben. Wilhelms etwas veraltete Übersetzung übersetzt hier noch „tian“ als „Gott“, was inhaltlich nicht passend ist, wohl aber mit der Absicht geschah, Menzius einem westlichen Publikum nahe zu bringen.
Kwahme Anthony Appiah (2009). Explaining Religion: Notes Toward a Research Agenda. In: S.A. Levin (Hg.), Games, Groups, and the Global Good. Springer Physica-Verlag.
Appiah argumentiert, dass der Begriff der Religion sich stark an den monotheistischen Religionen orientiert, die zur Zeit des Kolonialismus in Europa existierten. Im Zuge der „Entdeckung“ anderer Kulturen (wie der von Appiahs ghanaischem Vater, die er hier beschreibt) wurde er dann einfach auf den Aspekt dieser Kultur angewandt, der den europäischen Religionen am nächsten kommt. In diesem Text argumentiert Appiah, dass wir den Begriff der Religion als ein „cluster concept“ sehen sollten, in einem Ted-Talk mit ansonsten ähnlichem Inhalt vertritt er dagegen eine „Irrtumstheorie“, nach der der Begriff der Religion nicht die scheinbare Neutralität hat, die er vorgibt zu haben, und dadurch widersprüchlich wird.
Fallstricke
- Das Interesse an Religionsphilosophie kann im deutschsprachigen Raum insbesondere bei jüngeren Studierenden gering sein. Der Bezug auf „Spiritualität“ im Titel des Kurses kann hier etwas helfen. In meiner Erfahrung kam es dennoch zu einem gewissen Überhang an Seniorstudierenden. Das ist per se nicht schlimm, es ist hier aber wichtig ein gemeinsames Interesse an der Kernfrage des Kurses sicherzustellen.
- Insbesondere das Werk Nāgārjunas ist in seiner Deutung umstritten. Eine eher skeptische Lesart, wie sie etwa mit Jay Garfields englischer Übersetzung vertreten wird, und die anti- realistische Lesart, wie sie etwa von Mark Siderits vertreten wird. Diese Streitigkeit lässt sich auch schon auf die verschiedenen Überlieferungen und die frühen Übersetzungen seines Werkes zurückverfolgen, und sie kann bei der Suche nach Sekundärliteratur oft zu Verwirrung führen.